Kennzahlen im Energievertrieb

Veröffentlich am 11. Juli 2017 von Esterion GmbH

In den Zeiten knapper werdender Margen, sofern diese überhaupt noch zu erzielen sind, versuchen viele Energieversorgungsunternehmen (EVU) über eine strengere Risikoklassifizierung die Spreu ihrer Kunden vom Weizen zu trennen. Ziel ist es hierbei, diejenigen Kunden zu identifizieren, die nur unter erheblichen Risiken oder gar realen monetären Aufwendungen beliefert werden können.


Ein Hauptaugenmerk liegt dabei zumeist auf dem Ausgleichsenergierisiko. Das Unternehmen muss Energie, die der Kunde abweichend von dessen beschaffte Mengen zu viel oder zu wenig verbraucht, zu separaten Preisen an- oder verkaufen. Da diese Preise jedoch erst nach der Belieferung bekannt werden und auf Basis der Gesamtabweichung innerhalb der Regelzonen und Marktgebiete über die real entstandenen Kosten ermittelt werden, ist dies eine massive Risikoposition, die im schlechtesten Fall nicht nur die Marge dieses Kunden verzehrt. Sollten zukünftig die Ausgleichsenergiepreise durch die steigenden Grenzkosten der fossilen Energieträger in die Höhe schnellen, wird sich dieses Risiko noch deutlich stärker ausprägen. Entsprechend ist es zumeist ein zentraler Prozess, dieses Risiko bestmöglich einzupreisen bzw. zu minimieren.


Während in den letzten Jahren das Thema Prognose hierbei immer weiter in den Vordergrund gerückt ist, und viele Unternehmen sich diesbezüglich mit entsprechenden Expertensystemen verstärkt haben, sind einige Versorger bereits den nächsten logischen Schritt gegangen, der in das folgende Theorem gefasst werden kann: Die beste Prognosesoftware nützt nichts, wenn Datenqualität und Prozesse im Unternehmen nicht auf und für eine hohe Prognosegüte ausgeprägt sind. Somit haben wir hier einen Dreiklang, der durchaus als das „Drei Säulen“-Konzept auf dem Weg zur optimalen Prognose gesehen werden kann.

Man muss sich jedoch von der Illusion verabschieden, dass alle Kunden theoretisch gut prognostizierbar sind. Entsprechend kann das Theorem erweitert werden:
Die beste Prognosesoftware nützt nichts, wenn Datenqualität und Prozesse im Unternehmen nicht auf und für eine hohe Prognosegüte ausgeprägt sind oder der Kunde durch quasi stochastisches Verhalten schlicht nicht prognostizierbar ist.

Die drei Säulen bleiben durch diese Erweiterung unberührt, erfordern aber implizit eine Analyse der potentiellen Qualität des Kunden als einen separaten Prozessschritt. Dieser sollte im Optimalfall schon vor dem Vertragsschluss durchgeführt werden, und Kennzahlen zum Lastverhalten des Kunden ermitteln.
Ziel ist es, den Mitarbeitern konkrete und nachvollziehbare Handlungsanweisungen zum Umgang mit dem Risiko zu geben. Dies kann von der Ausprägung kundenindividueller Risikokomponenten im in angebotenen Preis und die Festlegung von notwendigen Datenlieferungen des Kunden in den Vertragsdokumenten bis hin zur gänzlichen Vermeidung des Risikos durch Nichtbelieferung erfolgen.

Die Hauptschwierigkeit dreht sich jedoch um die Kernfrage: Welche Kennzahlen sind überhaupt als Risikoindikatoren geeignet? Anders als in den Aktienmärkten, in denen viele Preisverläufe sehr stark psychologischen Ursachen und kurzfristigen Abhängigkeiten folgen, ist der Energieverbrauch oder die Energieerzeugung zumeist durch externe Faktoren wie Wetterdaten bzw. Schichtpläne oder Auftragslage des Kunden geprägt. Harte, unternehmensunspezifische Indikatoren zur Volatilität des Lastganges oder über die Abhängigkeit von Betriebskalendern sollten mit weicheren, unternehmenseigenen Faktoren wie der Harmonie zur Portfoliostruktur zu einem funktionierenden Kennzahlensystem gekoppelt werden.

Realistisch kann ein solcher Prozess jedoch nur umgesetzt werden, wenn die Akzeptanz eines solchen Konzeptes im gesamten Unternehmen geschaffen wird. Gerade die Risikovermeidung durch Nichtbelieferung kann bei Energievertrieben, die Mengengesteuert am Markt agieren, massiv auf Widerstand stoßen. „Verständnis schafft Akzeptanz“ sollte hier die Devise sein, da das ganze Konzept nur nachhaltig funktionieren kann, wenn es von den Stellen getragen wird, an denen den Risiken optimal begegnet werden kann. Auch muss die Ermittlung der Kennzahlen so automatisiert wie möglich umgesetzt und in die bestehenden Prozesse integriert wird, so dass für die Mitarbeiter möglichst wenig Mehraufwand entsteht.


Jedes Unternehmen sollte sich hierzu explizit Gedanken machen, welche Indikatoren in welcher Ausprägung oder Kombination zu welchen Reaktionen im Unternehmen und gegenüber dem Kunden führen sollen. Frei nach dem Motto „Es gibt keine schlechten Kunden, nur welche, bei denen das Geld nicht über die Energielieferung verdient wird“ sollte dieses Regelwerk dann auch als Chance gesehen werden, den Kunden über das Kennzahlensystem so klassifizieren zu können, dass ihm die bestmöglich passenden Dienstleistungen angeboten werden können.

Stefan Heimel
Geschäftsführer esterion GmbH